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Am Rande der Vernunft

... „Was passiert über Washington?“, fragte Manuel, der die Wetterdaten, genau wie jeder, der mit dem Projekt zu tun hatte, genau beobachtete.

„Ich weiß nicht so recht. Ich kann mir im Moment nicht erklären, wie zwei solche Tiefdruckgebiete so schnell entstehen konnten.

Du bist ja eigentlich der Experte. Du solltest mir das sagen können.“

Tom sah erst Manuel und dann Simona an.

Beide waren froh, dass die Verletzung, die Manuel durch die einbrechende Fensterscheibe davongetragen hatte, nicht so gravierend gewesen war und nur eine kleine, nicht sonderlich tiefe Schnittwunde verursacht hatte.

Die Scherbe hatte zwar einen der Nerven am Rücken durchtrennt, aber es war zum Glück kein bewegungswichtiger oder gar lebensnotwendiger Nerv gewesen.

Jedenfalls war Manuel mit einem coolen Verband wieder aus der Charitè entlassen worden, saß nun in Toms Büro und grübelte, wie er die Entwicklung des Wetters über Washington deuten sollte.

„Ich kann es mir nur so erklären, dass beide Tiefs völlig natürlich entstandene Wirbel waren, die durch die Zelle an Wachstum und Vorwärtsbewegung gehindert wurden.

Ich gehe davon aus, dass sich beide irgendwo getroffen hätten, sich zu einem Herd sehr schlechten Wetters vereinigt hätten und sich dann ziemlich unspektakulär aufgelöst hätte.

Niemand hätte danach gefragt.“

„Jetzt hatten wir aber das winzige Problem, dass die Zelle schon so nicht in jedem Punkt genau den Instruktionen gefolgt ist. Statt sich  einhundertfünfzig Kilometer neben der Stadt aufzubauen, hat sie sich selbstständig gemacht und ist direkt über Washington zum Stehen gekommen.“, entgegnete Tom.

„Ja, ja, schon klar. Ich denke, dass sie von der enormen Wärmeenergieabstrahlung der Stadt regelrecht angezogen wurde.

Eine solch große Stadt verdunstet jede Menge Wasser, gibt viel Wärme ab und so weiter.

Nicht zuletzt hat sich ein solcher Moloch jeder Menge Abgase zu entledigen.“

Tom nickte. „Kann hinkommen. Jetzt bin ich nur gespannt, was aus dem ganzen Theater jetzt wird. Ich hoffe wirklich, dass wir nichts getan haben, was die Natur noch wütender macht. Ich meine, nicht, dass dieses kleine Puzzleteilchen der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Verstehst du? Klar verstehst du! Das Klima ist so komplex, dass kein noch so studierter Wissenschaftler in der Lage sein dürfte, alles, was dazugehört, zu überblicken.

Ich glaube, es braucht sehr viele Menschenleben lang Zeit, um solche Dinge zu erkennen, zu analysieren, zu protokollieren.

Aber egal, das hilft uns jetzt nicht weiter.

Wir müssen auf jeden Fall beobachten, wie es in Washington weitergeht. Und wir sollten die anderen Zellen im Auge behalten, nicht dass sich das wiederholt.

Nicht, dass das die Norm ist und wir mit der Irischen See nur Glück hatten.“ Tom verstummte.

Simona nahm Manuels Hand und beide sahen sich an.

„Dann haben wir statt der Menschheit zu helfen, die größte globale Katastrophe heraufbeschworen.

Dann gnade uns Gott!“

Jeder für sich spielte in Gedanken seine eigenen vorstellbaren Weltuntergangsbilder durch.

Aber keiner wollte sie bis zu Ende denken.

Jeder wollte, dass ihre Maßnahmen griffen.

Jeder wollte, dass die Erde noch zu retten war.

„Also, statt hier rumzusitzen und Schiss zu haben, sollten wir etwas tun.“

„Was denn? Die Zellen sind groß genug, die meisten sind auf dem Weg. Von denen in Washington, Moskau, und Peking einmal abgesehen. Wenn wir...“

Tom hob die Hand, unterbrach Manuel.

Der horchte auf, lauschte seinen eigenen Worten nach und wusste nach wenigen Augenblicken, was sein Freund meinte.

Mit wenigen Tastaturbefehlen hatte er die Ansicht von Washingtons Wetter minimiert und stattdessen die drei eben genannten Regionen wettertechnisch nebeneinander gestellt.

Was sie sahen, verblüffte, ängstigte sie. Ließ sie augenblicklich sowohl am Erfolg als auch an der Strategie zweifeln.

In allen drei Gebieten zeigten die Wetterkarten mittelstarke bis starke Tiefdruckgebiete, die sich seltsamerweise auf die jeweilige künstliche Gewitterzelle zu bewegten.

Aus den Augenwinkeln heraus wählte Tom die Nummer von Diane.

„Schaltest du bitte gleich auf Lautsprecher?“, bat er, als die Verbindung zustande gekommen war und sich Diane gemeldet hatte.

„Habt ihr alle Zellen und deren Umgebung im Blick? Seht ihr, was in Washington, Peking und Moskau los ist?“

„Ja, wir haben es gerade gesehen.“

„Mir kommt gerade der Vergleich von angreifenden Raubtieren in den Sinn, die einen Elefanten reißen wollen.“

„Da hast du nicht ganz unrecht, Tom. Und wenn du mal nach Washington gehst, dann siehst du in dem Moment, zumindest, wenn du unsere Analysegrafik nutzt, dass unsere dortige Zelle tatsächlich gefressen zu werden scheint.“

„Was...?“

Er tippte schnell einige Befehle ein und sah Sekunden später, was Diane meinte.

Die Zahlen, die von der Grafik benutzt wurden, sprachen eine deutliche Sprache.

Innerhalb der letzten zwanzig Minuten war die Zelle um etwa ein Neuntel geschrumpft. Und zwar an den Rändern, dort, wo die „natürlichen“ Tiefdruckgebiete die künstliche Gewitterzelle sozusagen in die Zange nahmen.

„Wenn das so weitergeht, dann ist in den nächsten zwei oder drei Stunden nichts mehr übrig von unserer Zelle.“, sagte einer der Mitarbeiter Dianes gerade.

Tom nickte unbewusst.

Wieso passierte das? Warum?

Und warum so schnell? Es war nicht zu übersehen, dass die Natur gegen das Künstliche kämpfte.

Aber welche Faktoren spielten dabei die ausschlaggebende, die  wesentliche Rolle?

Inzwischen zeigten die sich immer wieder verändernden Zahlen am Rande des Radardiagramms, dass sich der Prozess fortsetzte.

„Tom? Schau mal!“, rief Manuel und zeigte auf den Monitor eines anderen Computers.

Dort spielte sich in etwa dasselbe ab, wie in Washington.

Nur, dass es sich um eine Zelle handelte, die bereits unterwegs war.

Die Zelle, die sich in der Nähe von Ankara befunden, beziehungsweise dort gewachsen war, sah sich mit natürlichen Tiefdruckgebieten konfrontiert.

Und genau wie die in Washington, schien auch sie dem nichts entgegen zu setzen zu haben.

„Eigentlich verständlich.“, meinte Tom.

„Wir haben sie im Labor unter klinischen Umständen sozusagen geschaffen. Wir können sie nur am Leben halten, wenn wir sie ständig mit den nötigen Elementen füttern. Jetzt kommen Faktoren ins Spiel, welche die Wirkungen der Prozesse im Inneren der Zelle aufhalten können.

Ich hoffe, nur das. Nicht, dass die Prozesse auch noch umgekehrt werden. Dann haben wir das Chaos inszeniert. Wenn die Konzentrationen der Stoffe, die wir eingesogen haben, abregnet, bevor wir den vorgesehenen Platz erreicht haben…“

Das Telefon klingelte.

Tom nahm ab und lauschte, ohne ein Wort zu sagen, dem Anrufer.

Bestimmt eine Minute lang.

„Ich danke dir.“, sagte er dann leise und legte auf.

Simona sah ihn an.

Manuel sah ihn an.

Tom ließ sich kraftlos auf den Stuhl sinken, der in seiner Nähe stand.

„Es hat begonnen.“, sagte er tonlos, als er merkte, dass sie ihn anschauten.

„Tom?“, hörten sie aus dem Lautsprecher der Telefonanlage.

Noch einige Sekunden lang starrte er vor sich hin.

Dann spannte sich sein Körper, er streckte den Rücken durch und sagte laut damit es auch Diane hören konnte:

„Diane, holst du bitte alle Kollegen in die Nähe, damit alle hören können, was ab jetzt losgeht.“

Manuel und Simona sahen ihn erwartungsvoll an.

Jedoch konnten sie sich schon denken, dass es nichts Erfreuliches werden würde, was Tomas zu sagen hatte.

Denn sie hatten gesehen, was es ihn für Energie gekostet hatte, weiterzumachen.

„Wir sind soweit.“, hörten sie.

„Also Herrschaften.“ Er schaute seine beiden Freunde bedeutungsvoll an.

„Ich habe soeben erfahren, dass die Auswirkungen des Klimawandels für soviel Veränderung gesorgt haben, dass die direkten Verknüpfungen zum Tragen kommen und...“

„Tom? Könntest du bitte so reden, dass jeder versteht, was du sagen willst? Danke.“

Tomas schüttelte kurz den Kopf.

„Klar. Es scheint, als würden tatsächlich die schlimmsten Befürchtungen eintreten.

Die Stationen, die den Golf- beziehungsweise den Nordatlantikstrom beobachten, haben gerade starke Temperaturstürze in den Regionen des Stromes gemessen.

Es hat den Anschein, dass er stehen geblieben ist, unterbrochen wurde. Es ist natürlich noch viel zu früh, um die Richtigkeit dieser Annahme zu bestätigen, aber es ist bereits zu spät, mit entsprechenden Maßnahmen aufwarten zu können, die durch diesen Umstand nötig wären.

Wir haben jetzt wirklich keine Zeit mehr.

In den nördlichen Regionen sind bereits stark fallende Luftdrücke gemessen worden.

Dass die heftige bis heftigste Stürme verursachen, ist sowieso klar.

Wir müssen alle Zellen schnell in Richtung Wüste schicken. Frag doch bitte mal Karl, ob man nicht die Elemente weiter zuführen kann, währenddessen die Zellen in Bewegung gehalten werden.

Dann sollte auf jeden Fall und zwar ganz schnell jemand das Zepter in die Hand nehmen und erst die Umweltminister der Staaten informieren, damit diese dann ihren Regierungen Bescheid sagen und die müssen dann die Bevölkerungen warnen.

Ich weiß, wie das alles klingt. Ich kann mir selber zuhören.

Und ich weiß auch, dass ich vielleicht übertreibe.

Aber was auf keinen Fall geschehen wird, ist, dass wir am Ende sagen müssen, wir haben nicht doch alles versucht.

Ihr solltet wissen, ich habe nicht vor, diesen Krieg, den ich nicht angefangen habe, zu verlieren.“

Tom hatte eine Art und Weise, anderen klarzumachen, warum sie niemals aufgeben konnten, die alle anderen Gedanken schlichtweg in den Schatten stellte. Egal ob gute oder schlechte, ob konstruktive oder hinderliche.

Alle wussten, dass er Recht hatte.

Und doch verlangte diese Entscheidung, allein schon der Gedanke, dies alles mit all seinen Konsequenzen zu akzeptieren, mehr als normalen, alltäglichen Mut.

Diane spürte das.

Hugh spürte das.

Genau wie John und die anderen.

Jeder zögerte.

Zögerte anzuerkennen, dass sie hier den ersten Schritt tun mussten.

Dass sie diejenigen sein würden, die die Welt von einer Minute auf die andere verändern würden.

Warum ausgerechnet sie das sein mussten, war niemandem klar.

Denn die Forscher, die das Stehenbleiben des Nordatlantikstromes vermuteten, hatten doch bestimmt auch gute Kontakte zur Umweltpolitik ihres jeweiligen Landes.

Aber darum ging es nicht.

Es stand nicht zur Debatte, wer die Menschen vom unweigerlichen Umschwung im Weltklima unterrichtete.

Es war wichtig, dass es geschah.

„Wir stehen, denke ich, vor der wichtigsten Entscheidung der Menschheitsgeschichte.

Wenn wir die Welt jetzt warnen, dann gibt es eine Panik, die mit nichts wieder gutzumachen ist. Es sei denn, diejenigen, die die Warnungen ausrufen sind in der Lage, den Menschen zu erklären, dass Panik nur schadet.

Und irren wir uns, was den Zeitpunkt des Kippens des Klimas betrifft...

Warnen wir die Menschen nicht, weil wir der Ansicht sind, dass wir die Zeichen überbewerten, kommt alles, was wir hinterher unternehmen, zu spät und wir haben ein paar Millionen Menschen auf dem Gewissen.

Leute, ich weiß, wie das klingt, glaubt mir. Aber wir müssen jetzt eine Entscheidung fällen. Jetzt!“

Tom hatte ausgesprochen, was jeder dachte.

Tom hatte die Ängste aus dem Brunnen herausgeholt, die jeder zu verbergen, zu ertränken, gesucht hatte.

Tomas hatte in der Zwischenzeit die Nummer des Umweltministers gewählt.

„Ist es dir möglich, Robert, mal für eine Minute rüber zu kommen? Wir müssen eine Entscheidung treffen.“

Kurze Zeit später stand Kirsch in der Tür.

„Veränderungen?“, fragte er kurz.

„Kann man so sagen. Ich habe hier am anderen Ende die Edinburgh’sche Mannschaft.

Wir haben gerade die Meldung bekommen, dass die Polarstationen drastische Temperaturstürze im Bereich des Nordatlantikstroms gemessen haben. Es entstehen in den benachbarten Regionen zum Teil heftige Stürme.

Alles deutet darauf hin, dass der Golfstrom stehen geblieben ist.

Damit hätten alle Unken und Schwarzseher und Wissenschaftler und Forscher, die das vorhergesehen hatten, Recht.

Und wir steuern, wenn dem wirklich so ist, auf die größte globale Katastrophe seit Beginn der Menschheitsgeschichte zu.

Es ist wichtig zu entscheiden, ob wir die Welt vor dem Beginn des Ausrastens des Klimas warnen, oder ob wir warten, bis wir uns ganz sicher sind, dass wir uns nicht geirrt haben.

Allerdings wissen wir nicht, was geschieht, wenn wir warten und wir haben doch Recht.

Ich gebe zu bedenken, dass jede Minute zählt. Und ich möchte nicht der einzige sein, der eine sofortige Publikmachung der Zustände fordert. Mir wäre wohler, wenn einige studierte, promovierte, anerkannte Wissenschaftler meinen Standpunkt teilen würden.

Nicht, um ihn mit mir zu teilen, sondern weil sie derselben Meinung sind wie ich.

Ich weiß, dass das, was wir in den nächsten Minuten tun, egal, in welche Richtung wir uns entscheiden, das Leben auf diesem Planeten für immer verändern wird.

Doch ich weiß auch, dass wir es tun müssen! Wir müssen!“

Kirsch strich mit der Handinnenfläche über sein stoppeliges Kinn.

Das kratzende Geräusch holte ihn zurück.

„Du hast völlig Recht, Tomas. Wir müssen etwas tun.

Gib dir und uns ein paar Minuten.

Ich gehe zum Kanzler und unterrichte ihn.

Er entscheidet dann die weitere Vorgehensweise.

Wir können diese Dinge nur auf der höchsten Regierungsebene in den Griff bekommen, denn schließlich weißt du selbst wie es ist, wenn einem nicht geglaubt wird.“

Tom nickte.

„Egal, was wir tun, wir müssen es schnell tun.“

„Bin schon unterwegs.“

Schon gespannt, was sie tun werden?

Oder wie es dazu gekommen ist? 

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