Nesi Hensu und das Amulett von Niut
... „Wie weit sind wir mit den Vorbereitungen?“
Amin inspizierte alle Türme und Garnisonen der Stadt.
Niut würde standhalten, dessen war er sich sicher.
„Wir sind bereit, Herr.“
Die Neuerungen in den Arsenalen des Heeres machten nicht nur Amin und Bennù Hoffnung, auch die Soldaten schienen zuversichtlicher als sonst, dass sie den Hyksos Einhalt gebieten konnten.
Jeder sprach von Amin, alle tuschelten, dass er mit den Göttern im Bunde stehe, wie sonst hätte er all diese Ideen entwickeln und umsetzen können?
Der Tag neigte sich langsam dem Ende, Bennù und Amin und der Heeresstab waren sich einig, dass der Angriff erst bei Nacht stattfinden würde.
Südlich von Niut reichte die Steinwüste fast bis ganz an den Großen Strom heran, dieses würden die Heka-chaset als Tarnung versuchen zu nutzen. Sie werden den Fluss bei Esna überqueren und so die östliche Seite des Stromes heraufkommen.
Die Vorbereitungen waren getroffen, die Soldaten ausgeruht und kampfbereit.
Sollte Seth kommen, Amin wusste Horus, Month und die anderen Götter an seiner Seite.
Von den Vorgängen um und in Edfu wusste er freilich nichts. Er hielt es zu gefährlich, Boten zu entsenden und Meldungen einzufordern. Ihm war klar, dass kein Bote auch nur nah genug an die Handelsstadt herankommen würde, um verlässliche Beobachtungen machen zu können.
Deshalb setzte er alles auf ihre erstarkte Verteidigung.
Und er fühlte sich siegessicher.
Amin sollte mit den meisten seiner Annahmen Recht behalten.
Die Hyksos unter Seth überquerten den großen Strom in Esna, sie machten den Ort, der von der Schifffahrt und dem Handel ober- und unterhalb des Ortes lebte, dem Erdboden gleich.
Kein Gebäude wurde verschont, keiner überlebte.
Kurz bevor die Nacht zur Hälfte herum war, gaben die Wachen an den Südmauern Alarm.
Doch worüber sie berichteten, erstaunte alle und ließ sie erschaudern.
Es waren keine Hyksos zu sehen.
Nur Seth in seiner goldenen Vogelgestalt, neben ihm ein übergroßer Löwe und zwei Kriegerinnen auf Löwen standen nebeneinander und schienen aus kurzer Entfernung die Tore Niut‘s zu beobachten.
Amin war in den Südostturm geeilt und erschrak. Seine Annahme, dass die Hyksos aus Osten angreifen würden, könnte falsch gewesen sein.
Schnell ließ er Signale an alle anderen Türme senden, damit diese ihre Beobachtungen verschärften.
Er hatte alle schweren Waffen im Süden und Osten der Stadt stationieren lassen. Der Norden und Westen war nun nur schwach zu verteidigen. Und es würde ewig dauern, diesen eventuellen Fehler im Falle des Falles zu korrigieren. Dann würde es zu spät sein und Niut gefallen.
Amin verspürte einen Anflug von Angst.
Und etwas Hilflosigkeit. Wo waren Horus und Month?
Sie hatten nach Edfu gewollt, um die Menschen dort zu retten. Was, wenn Seth im Kampf gegen sie gesiegt hatte?
Alles Fragen, auf deren Beantwortung er nun nicht mehr warten konnte.
Seth hatte sich in die Luft erhoben und schlug mit seinen gigantischen Flügeln, einige Meter über dem Boden in der Luft stehend.
Die beiden Kriegerinnen auf ihren Löwen konnten diese scheinbar kaum noch bändigen, auch der Löwengott scharrte im Sand.
„Herr, sollen wir angreifen?“, fragte einer der Soldaten auf der Mauer.
„Nein. Noch nicht. Wir werden unsere Stärke noch nicht preisgeben“
„Gewährt mir Einlass in eure Stadt. Oder sterbt!“ dröhnte Seth‘ Stimme durch die Nacht.
Amin hatte große Fackeln in der Ebene errichten lassen, die neben dem Mond als übergroße Lichtspender diese erhellten.
Die Löwen der Kriegerinnen gaben ein ohrenbetäubendes Brüllen von sich. Amin wankte nicht.
Seine Stimme war sicher zu schwach, als dass er Seth würde auf diese Entfernung antworten können.
Er ließ sich von einem Soldaten den Bogen geben und zielte auf den Wüstengott. Der Pfeil prallte an dessen Rüstung ab. Nichts anderes hatte Amin erwartet.
„Es geht los! Haltet euch bereit!“, rief er den Soldaten zu.
Seth hatte die Antwort verstanden und beschleunigte seinen Flügelschlag, setzte sich mit größer werdender Geschwindigkeit in Richtung Mauern in Bewegung. Auch die Löwen und der Löwengott waren auf dem Weg.
„Wartet!“, rief Amin. „Wartet!“
Nur noch eine kurze Distanz trennte die Angreifer von der Mauer.
„Jetzt!“, schrie Amin.
Unzählige Pfeile durchpflügten die Luft. Die Katapulte warfen kleine, spitze Sterne, andere warfen größere Steine, wieder andere schossen mit brennenden Kugeln aus Viehmist.
Die Sterne hagelten auf die Löwen ein, nach mehreren Salven gingen sie zu Boden, tödlich getroffen.
Die Kriegerinnen Pachet und Menhyt, erprobt und erfahren, sprangen von den Tieren, noch während diese zusammenbrachen und rannten weiter.
Auch sie waren Göttinnen und konnten durch die Waffen der Menschen nicht getötet werden. Doch Verwundungen taten weh. Deshalb wurden sie immer schneller und wichen geschickt den entgegenkommenden Geschossen aus.
Seth war inzwischen vor der Mauer angekommen und schwang sich mit kräftigem Flügelschlag empor.
Zeitgleich setzten die Kriegerinnen und der Löwengott, der es auch durch den Hagel an Geschossen geschafft hatte, zu einem gewaltigen Sprung an und standen innerhalb eines Augenblickes auf der Mauer.
Seth flog über diese hinweg und pflügte mit seinem Speer durch die Menge der Soldaten, die tödlich getroffen, mit zerschmetterten Köpfen und Gliedern zu Boden fielen.
Pachet, die eine glühende Peitsche als Waffe nutzte, erwischte immer gleich drei oder vier der Verteidiger und Menhyt zerschlug ihre Gegner mit einem funkensprühenden Krummschwert.
Amin war in den Hof der Garnison gerannt und holte sich dort die Waffe, die er genau für diesen Fall vorbereitet hatte.
Genauer gesagt, hatte nicht er diese Waffe hergestellt, sondern sie war ein Geschenk der Allianz der Götter.
Von Anubis ein Teil seiner Rüstung, von Bastet Striemen ihrer Peitsche, von Hathor die Sonnenscheibe ihrer Krone, Horus hatte Falkenfedern gegeben, Bastet Schnurrhaare, Month einen Teil des Heftes seines Krummschwertes und Thot eine Ibis-Feder.
All diese Dinge zusammen waren zu einem Speer verschmolzen, der es mit der Kraft und Macht des Sonnenspeers Ra’s aufnehmen konnte.
Nun war erstmals eine Waffe geschaffen worden, die in der Lage war, einen Gott durch Menschenhand zu töten.
Die Götter hatten jedoch eine Art Sicherung eingebaut. Niemand außer Amin sollte in der Lage sein, diese Waffe zu nutzen. Das machte ihn in gewisser Weise noch mächtiger als den Pharao.
Doch daran war Amin nicht gelegen. Er wollte einfach nur, dass Seth gestoppt wurde. Dass er und alle Ägypter in Frieden leben konnten und nie wieder Angst vor dem nächsten Angriff einer Horde Soldaten aus fernen Landen haben mussten.
Amin ergriff den Speer und eilte wieder zur Mauer, auf der noch immer ein fürchterliches Gemetzel tobte. Seth und seine Gehilfen waren noch immer dabei, mit ihren übermächtigen Waffen einen Soldaten nach dem anderen abzuschlachten.
Auf der Mauer angekommen, in einigem Abstand zu Seth, richtete Amin den Speer auf Pachet.
Ein glühend heißer Feuerstrahl, der scheinbar von blau leuchtenden Lichtern durchsetzt war und im Inneren einem hoch lodernden Feuer glich, schoss aus dem vorderen Ende heraus und traf Pachet, die sich gerade zu ihm herumdrehte, in den Oberkörper.
Amin erschrak, denn im ersten Moment geschah gar nichts. Der Strahl wurde von Pachets Körper regelrecht aufgesogen, sie hielt in ihrer Bewegung inne und reagierte gar nicht.
Er rechnete damit, dass sie im nächsten Augenblick auf ihn zustürmen würde und er sein Leben verlieren würde.
Doch kurze Zeit später öffnete sie den Mund, er wurde größer und größer, bis die Mundwinkel aufzureißen begannen und ein blendendes blaues Licht aus ihrem Inneren hervorströmte.
Gleichzeitig erklang ein immer lauter werdender Schrei, der alle Kämpfenden innehalten ließ. Nachdem der Schrei ohrenbetäubend geworden war und jeder versucht war, sich die Ohren zuzuhalten, verstummte Pachet. Sie schloss den Mund, sah ganz normal aus und Amins Befürchtung um seinen nahen Tod verstärkte sich kurzzeitig wieder.
Pachet machte einen Schritt auf ihn zu. Doch plötzlich schwoll ihr gesamter Körper in Sekundenschnelle an und zerstob in eine Million funkelnde sternengleiche Teilchen. Dies geschah völlig lautlos und für jedermann gut sichtbar, waren doch alle Blicke noch gespannt auf sie gerichtet.
Amin ließ den Speer sinken und Seth begann zu brüllen: „Nein!“
Dieser Schrei löste die Starre sowohl bei den Soldaten, als auch bei Menhyt, die nun wieder begann, auf die Soldaten einzuschlagen. Doch waren ihre Bewegungen nicht mehr dieselben wie vorher. Sie waren irgendwie zaghafter und nicht mehr so häufig, sodass es immer mehr Soldaten gelang, den Schlägen auszuweichen. Auch schaute sie immer wieder zu Amin, der noch immer in Gedanken bei der Wirkung des Götterspeeres war.
Dann geriet Seth in sein Blickfeld.
Dieser schaute für einige Augenblicke nach oben in den nächtlichen Himmel.
Ruckartig stieß er seinen Speer in die Höhe und ein Feuerstrahl mit ungeheurer Reichweite fuhr empor, um in großer Höhe in einen funkelnden Sternenregen zu zerbersten.
Die blitzenden Funken erhellten den Himmel derart stark, dass die Szenerie hell, aber doch sehr gespenstisch anzusehen war.
Und noch eines konnten die Soldaten Niut’s sehen.
Die angreifenden Hyksos. Sie rannten aus der von Amin vermuteten östlichen Richtung auf die Stadtmauern zu.
„Angriff! Haltet euch an den Plan!“, rief Amin den Streitkräften zu.
Die Soldaten, die durch den unerwarteten Angriff Seth‘ ihre Posten verlassen hatten, rannten zurück und brachten die Waffen wieder in Stellung.
Die ersten Angreifer hatten bereits die Mauern erreicht, als die ersten Bogenregen in ihre Körper einschlugen. Viele gingen zu Boden, aber der Großteil stürmte weiter an, doch die neuartigen Spitzen der Pfeile zeigten ihre Wirkung. Sie gingen durch die bisher schwer durchdringbaren, mehrlagigen Lederrüstungen durch, als wären die Hyksos in Pergament gekleidet.
Riesige Feuerbälle stürzten nach unten und zerbarsten beim Aufprall auf den Boden und verbrannten wiederum viele. Die Katapulte griffen die weiter Entfernten an. Eisensterne mit spitzen Ecken bohrten sich unbarmherzig in die Körper.
Immer wieder entluden sich die Verteidigungswaffen gegen die Feinde.
Seth beobachtete das natürlich genau. Immer wieder schaute er zwischen seinen Hieben zu den Heka-chaset und überlegte, was er tun könnte, um die im Moment anscheinend nahende Niederlage zu vermeiden.
Er rief Menhyt und Mahes zu sich und alle drei sprangen von der Mauer und rannten, Seth flog, in einen sicheren Abstand zu den Fernwaffen der Niut‘schen Armee.
Sie stellten sich in einem kleinen Halbkreis zueinander auf und hoben ihre Arme mitsamt Waffen in die Luft. Über ihnen bildete sich ein rotglühender Feuerball, den sie mit ihren Handbewegungen in Richtung Niut in Bewegung versetzten.
Amin hatte dies beobachtet und hoffte inständig, dass ihm die Waffe der Götter auch dieses Mal helfen würde.
Als der Feuerball in entsprechender Entfernung war, feuerte er den Strahl aus dem Stab ab. Wieder brüllte eine rotglühende Masse aus dem vorderen Ende und traf kurz vor der Mauer auf den Feuerball, der augenblicklich explodierte und dabei aber noch größeren Schaden anrichtete, als Amin es für möglich gehalten hatte.
Tausende kleine Glutbälle flogen nun in alle Himmelsrichtungen und trafen folgerichtig auch die Verteidiger. Sie wurden schwer verletzt oder verbrannten an lebendigem Leibe.
Aber auch viele der angreifenden Hyksos wurden von den Flammen verzehrt.
Und schon formten Seth und seine Schergen einen Neuen und schickten ihn auf die Reise.
„Ich hoffe, ihr steht mir bei.“, betete Amin und wartete diesmal nicht.
Sein Abwehrstrahl erreicht den Glutball schnell und noch in der Nähe der Götter, zerfetzte ihn und nun standen Seth und seine Gefährten im Feuer.
Aber sie traten einfach einige Schritte zur Seite und waren so aus der Gefahrenzone heraus.
Wieder versuchten sie es mit derselben Taktik, wieder konnte Amin die Gefahr durch den Götterstab eliminieren.
Seth brüllte auf und erhob sich in die Luft, festen Willens, Amin ein für alle Mal zu zerstören.
Doch Seth’s Mitstreiter hielten ihn auf. „Willst Du dich durch diesen Menschen vernichten lassen?“
Seth sah ein, dass sie Recht hatten.
Aber irgendwie musste er es doch mit diesem Widerling von Menschen aufnehmen können.
Vielleicht ging es…
Seth hob seinen Stab in die Luft, drehte ihn und stieß ihn mit Macht in die Erde.
Ein leichtes Donnergrollen war zu hören, er schlug sich mit beiden Unterarmen gegen die Brust und verwandelte sich augenblicklich in ein großes, ausgewachsenes Wildschwein.
Es dauerte nicht lange und eine unüberschaubare Menge an Wildschweinen kam direkt aus der östlichen Steinwüste.
Er reihte sich sofort in die rasende Horde Schweine ein und kam Niut schnell näher.
Bennu, der die Wildschweine als erster kommen sah, traute seinen Augen nicht.
Er machte schnell Amin darauf aufmerksam.
„Was ist das denn jetzt wieder für ein fauler Zauber?“, murmelte dieser.
„Wenn die nicht von Seth sind, dann gibt es wenigstens genug zu essen.“, rief einer der Soldaten.
Bennu zielte mit dem Bogen und traf eines der Schweine mit einem perfekten Schuss.
Doch nichts passierte. Das Tier lief einfach weiter, den Pfeil im Herzen.
Amin schrie den Soldaten zu: „Passt auf die Schweine auf. Das ist ein neuer Trick von Seth!“
Schnell konzentrierten die Katapulte und die Bogenschützen ihr Feuer auch auf die Schweine.
Wenn die Tore bisher dem Ansturm der Hyksos stand gehalten hatten, dem vollen Lauf, mit dem Wildschweine gegen die Tore brandeten, konnten sie nicht mehr lange widerstehen. Viele starben beim Aufprall auf die schweren Tore.
Splitterndes Holz und berstende Balken waren zu hören, das typische Grunzen und Quieken der Wildschweine erfüllte bald den gesamten Innenhof der Garnison.
Und da diese nicht durch weitere Mauern vom Rest der Stadt abgetrennt war, rannten die wilden Tiere bald schnell durch die Straßen von Niut.
Amin dachte angestrengt nach, was das alles zu bedeuten hatte.
Sollte Seth die Tiere tatsächlich als Brecher der Tore eingesetzt haben, um den Hyksos endlich Zutritt zur Stadt zu schaffen? Er wusste, dass sich die Götter in jedes beliebige Wesen verwandeln konnten, hatte sich Seth unter die Wildschweine gemischt?
Ihm fiel wieder ein, dass auch Seth‘ Mitstreiter sicher noch einige Trümpfe in der Hand hielten und hielt nach denen Ausschau.
Keine Sekunde zu spät.
Er drehte sich gerade um, als er Menhyt regelrecht angeflogen kommen sah, gerade konnte er noch den Speer herumreißen und so erreichen, dass die Kriegerin in die Speerspitze sprang.
Tief drang diese in den Körper ein und die Wucht des Aufpralls riss Amin mit.
Er fiel rücklinks von der Mauer in den Hof, die Kriegerin leblos auf seinem Körper.
Amin spürte die Schmerzen in seinem Rücken, hoffte, dass er sich noch würde bewegen können und betete gleichzeitig, dass Menhyt nicht mehr am Leben war.
Einige Soldaten, die das beobachtet hatten, eilten ihm zu Hilfe und wuchteten den leblosen Körper von Amin herunter...
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